Älter, einsam, lange Beine

Bisher las ich zuerst auf der letzten Seite des ersten Teils dieser unserer Zeitung die Todesanzeigen. Pflichtgemäß, um rechtzeitig kondolieren zu können. Und um darüber hinaus über Sinn und das Ende menschlichen Lebens nachdenken zu können. Bisher. Doch die sich früher einstellende Andacht bei der Lektüre vom nun gewissen Ende von Mitbürgern aus Kreis und Stadt Uelzen ist derzeit verdrängt worden. Durch die hier und da zwischengestreuten und nebengesetzten Anzeigen eines mir neuen Personenkreises, der mir uralte Vertrautheit suggeriert. Das geht schon los mit dem ,,Du", dessen direkte lebendige Ansprache mich fatal von den todesträchtigen Anzeigen neben und meinem bisherigen Philosophieren in mir abzieht. „Ältere Frauen" wollen sich da mit mir treffen - und ich soll anrufen. Wenn sie nicht älter sind, dann sind sie „tolerante Frauen" oder „langbeinige Frauen“, die alle dasselbe vorschlagen: Anruf, Treffen, Verabredung. Vielleicht sind sie aber auch alles gleichzeitig? Älter, tolerant und langbeinig? Eilige Damen sind auch darunter, die es eilig haben („Sofortkontakt") und solche, die ihre vollzogenen Reifungen betonen („Vollbusigkeit" im physischen und „Reife" im psychischen lese ich). Und immer nebenan oder dazwischen die traurigen manchmal auch freudigen - Familienanzeigen. Ja, ja von Geburt bis zu dem Sterben führt der Liebe stetig Werden (ich komme ins Dichten statt wie früher - in das Philosophieren). Für den Fall, daß es (m)einer Phantasie zu billig ist, was in diesen Anzeigen anziehen soll (um dann später das Gegenteil zu bewirken) gibt es auch Absender, die meine kunstgeschichtlich-ästhetische Kenntnis fordern: „Rubens-Frau frei" lese ich. Und das erinnert mich lebhaft an jene Dame im Foyer des Celler Schloß-Theaters (die ,,Bohnenkönigin", Barockgemälde in Öl), deren prachtvoll üppigen Blößen nie ganz frei bewundert werden konnten. Weil die älteren Schülergruppen mit über 1,55 Meter Körperlänge vor uns jüngsten Unterstuflern in Gruppen standen und die Schau bzw. Sicht stahlen. Ich bin zwischenzeitlich gereift und springe natürlich auf solche Dame an, die sich selbst als älter, als reif bezeichnet. Was mich nur verwirrt, ist die Firmierung dieser Einladungen. Während die jeweils neuen Helgas und Sabrinas und Annikas und so weiter schlicht mit ihrem Namen und vertraut örtlichen Telefonnummern ohne Reife und feige alterslos werben, sind alle diese neuen Nummern tatsächlich unter einem Dach, eine Sammelnummer. Und die ist nicht von hier. Der Ärger bei mir über mich ist doppelt: Ich bin abgelenkt von meinem früheren, reifen Sinnieren über den Lebenssinn durch diese telekommunikativ gesteuerte Sinnlichkeit (für 1,20 Mark pro Minute soll die zu haben sein und ich weiß immer noch nicht, wie). Außerdem beginne ich eifersüchtig - misstrauisch zu werden. Denn Tatsache ist: Soweit bin ich schon gesunken, daß ich frühere Anzeigen als zwischen den Todesanzeigen empfand. Und diese Sorte? Die sehe ich so, daß die Todesanzeigen dazwischen sind. Also wenn einmal mein Name in einer Todesanzeige hier steht - wer schaut denn da schon hin? Ich werde einen anderen Platz für diese Kontakte anzuregen versuchen. Im allgemeinen Interesse.

09. Januar 1996